1. Was bedeutet „rein verkabeltes Backend“?
In vielen Startups und kleineren Projekten sehen wir ein Phänomen, das man salopp als „rein verkabeltes Backend“ bezeichnen könnte: Statt eine eigene, umfassende Server- und Datenbankinfrastruktur zu betreiben und jedes Feature selbst zu entwickeln, greifen Teams gezielt auf SaaS-Anbieter und externe APIs zurück. E-Mails werden nicht über einen eigenen Mail-Server verschickt, sondern über Mailgun oder SendGrid. Kundenanfragen laufen nicht durch ein selbsterstelltes Ticket-System, sondern werden in Zendesk abgewickelt. Für die Nutzer-Authentifizierung und Datenhaltung kommt etwa Firebase zum Einsatz – und so weiter. Dieses Vorgehen hat sich vor allem im Zeitalter der Cloud stark verbreitet. Immerhin existiert für fast jede Funktion, die moderne Anwendungen benötigen, ein passender Dienst: Zahlungsabwicklung, Analyse, Chat-Funktion, Lager- und Fulfillment-System. Statt also alles selbst zu programmieren, „verdrahtet“ man sein Frontend mit einer Vielzahl von externen Diensten. Das ist oft schnell und günstig, denn man spart die anfängliche Entwicklung und den Betrieb einer eigenen Infrastruktur. Hinzu kommt, dass viele dieser SaaS-Services äußerst benutzerfreundlich sind, gut dokumentiert und in der Regel mit einer klaren Preistabelle aufwarten. Allerdings stößt dieses Modell irgendwann auch an Grenzen. Nicht jedes Projekt oder Unternehmen kann und sollte sich auf ein so stark ausgelagertes Backend verlassen. Denn ab einer gewissen Größe oder Komplexität schleichen sich Nachteile ein, die man von Anfang an im Blick haben sollte.
2. Die Schattenseiten: Risiken und Grenzen des „rein verkabelten“ Ansatzes
Abhängigkeit von der Verfügbarkeit und Qualität der Dienste
Wenn Mailgun, Zendesk oder Firebase mal einen Ausfall haben, ist direkt das eigene Produkt betroffen. Was, wenn es zu längeren Downtimes kommt oder ein Anbieter seine API ändert, ohne rechtzeitig zu informieren? Je mehr externe Services ein Projekt nutzt, desto mehr Punkte für potenzielles Scheitern gibt es.
Vendor Lock-in
Viele SaaS-Angebote locken mit günstigen Einstiegs- oder Freemium-Tarifen, die sich nach und nach zu stattlichen Kosten entwickeln können. Häufig ist der Wechsel zu einem anderen Tool gar nicht so einfach, weil der Datenexport unvollständig ist oder eine Umschreibung der bestehenden Integrationen sehr aufwendig wäre. Wer mehrere Jahre in eine verkabelte Struktur investiert hat, wird sich schwer tun, alle Bausteine auszutauschen, wenn ein Anbieter seine Preise drastisch erhöht oder bestimmte Features einstellt.
Datenschutz und Compliance
Sobald sensible Nutzer- oder Geschäftsdaten in fremde Systeme wandern, muss man sichergehen, dass alle Vorschriften (z.B. DSGVO) eingehalten werden. Das kann eine Herausforderung sein, vor allem wenn mehrere externe Anbieter involviert sind, die sich womöglich in unterschiedlichen Ländern befinden und ihre eigenen AGBs haben. Für Branchen mit hohen Compliance-Anforderungen (Banken, Gesundheitswesen etc.) ist das Auslagern von Kerndaten oft nur eingeschränkt möglich oder erfordert viel juristische Vorarbeit.
Begrenzte Anpassungsmöglichkeiten
Fremde Plattformen bieten zwar unzählige Funktionen, können aber nicht beliebig auf individuelle Anforderungen zugeschnitten werden. Wer sehr spezifische Workflows oder Integrationen braucht, stößt bei manchen SaaS-Lösungen schnell an Grenzen und muss mit komplizierten Workarounds leben. Ein eigenes Backend hingegen lässt sich in alle Richtungen erweitern und nach Bedarf umstrukturieren.
Komplexität im Zusammenspiel
Was auf den ersten Blick simpel erscheint – man bindet hier und da ein paar Services an – kann hinter den Kulissen rasch unübersichtlich werden. Jedes Tool hat eigene Authentifizierungsprozesse, Protokolle, Versionsstände und Limitierungen. Wenn Fehler auftreten, verteilen sie sich über mehrere Systeme, und es wird schwierig, die Ursache zu ermitteln. Das Debugging kann sich zu einer wahren Detektivarbeit entwickeln.
3. Für wen lohnt sich welcher Ansatz?
Ob ein stark ausgelagertes Backend nun Fluch oder Segen ist, hängt stark von den Anforderungen und der Unternehmensgröße ab.
Startups und kleine Projekte
Gerade in der frühen Phase, in der ein Unternehmen noch nicht weiß, ob und wie die Geschäftsidee ankommt, ist Zeit der größte Feind. Da kann es enorm wertvoll sein, innerhalb weniger Tage oder Wochen ein funktionierendes Produkt zu launchen. Externe Services ermöglichen dies: Keine eigene Server-Architektur, kein kompliziertes Deployen und Warten, sondern Plug-&-Play-Lösungen, die den Teamfokus auf das eigentliche Produkt lenken. Für kleine Teams und MVPs sind solche Services daher oft ein Segen. Man kann rasch skalieren, zahlt zunächst wenig und konzentriert sich auf die Kernfunktionalitäten, die im Zweifel einzigartig sind.
Wachsende Startups
Mit zunehmender Traktion steigt in der Regel auch der Wunsch nach mehr Kontrolle. Ein Startup, das beginnt, hunderte oder tausende aktive Kunden zu bedienen, denkt plötzlich über Markenidentität, Datenschutz und Performanz nach. Hier kann ein SaaS-Anbieter immer noch sinnvoll sein, solange man nicht zu stark an individuelle Anpassungen gebunden ist. Problematisch wird es, wenn essentielle Anforderungen nicht abgedeckt werden – dann muss man vielleicht doch ein eigenes Modul entwickeln.
Konzerne und große Unternehmen
In großen Unternehmen steht das Thema Sicherheit und Compliance oft ganz oben. Viele Konzerne haben zudem eigene IT-Abteilungen, die in der Lage sind, interne Services zu betreiben und an spezifische Bedürfnisse anzupassen. Ein rein verkabeltes Backend ist hier eher die Ausnahme, weil man zu viele Abhängigkeiten und Kontrollverluste befürchtet und hohe Lizenzkosten für große Nutzerzahlen anfallen können. Allerdings setzen auch Konzerne in manchen Bereichen auf SaaS-Lösungen, wenn diese sehr spezialisiertes Know-how mitbringen – etwa KI-basierte Tools zur Bilderkennung oder hochspezialisierte Marketing-Plattformen.
Branchen mit starken Regulierungen
Banken, Versicherungsgesellschaften, Healthcare-Provider oder Unternehmen aus dem öffentlichen Sektor müssen umfangreiche Vorgaben einhalten. Hier ist es oft keine Option, den Großteil der Infrastruktur auszulagern, weil das Datenschutzrisiko zu hoch ist oder regulatorische Stolpersteine drohen. Solche Unternehmen fahren häufig gut damit, ein eigenes Rechenzentrum oder eine dedizierte Cloud-Umgebung einzurichten und die Kernsysteme selbst zu verantworten.
4. Fazit: Der Mittelweg zwischen Speed und Kontrolle
Die Frage nach dem richtigen Backend-Konzept lässt sich nicht pauschal beantworten. „Rein verkabelt“ kann ein enormer Geschwindigkeitsvorteil sein, besonders in einer frühen Phase. Dadurch lässt sich ein MVP schnell an den Markt bringen, was für viele junge Firmen überlebenswichtig ist. Langfristig lauern jedoch das Risiko der Abhängigkeit, steigende Kosten und mögliche Einschränkungen bei Anpassungen und Compliance. Es ist daher sinnvoll, von Anfang an eine „Hybrid-Strategie“ zu planen. Manche Dienste – zum Beispiel E-Mail-Versand oder einfache Analytics – können problemlos ausgelagert werden, weil sie keine sonderlich hohen Risiken bergen. Andere Elemente, die das Herzstück der eigenen Wertschöpfung ausmachen oder besonders sensible Daten enthalten, sollte man im Blick behalten oder besser selbst betreiben. So lässt sich die Waage zwischen schneller Umsetzung und ausreichender Kontrolle halten. Gerade für Startups ist das rein verkabelte Backend anfangs verlockend und oft der richtige Weg, um rasch sichtbar zu sein. Doch sobald das Geschäftsmodell sich verfestigt, lohnt es sich, kritisch zu prüfen, wo der externe Baustein an Grenzen stößt und ob es nicht strategisch klug wäre, bestimmte Funktionen ins eigene Haus zu holen. Große Konzerne stehen meist auf der anderen Seite: Sie entwickeln vieles selbst oder kaufen fertige Systeme und passen sie an ihre IT-Landschaft an, weil sie sich umfassende Kontrolle sichern wollen. Auch sie binden jedoch gelegentlich spezialisiertes Fremd-Know-how ein, um Kosten und Entwicklungszeit zu sparen. Am Ende geht es immer um eine sorgfältige Abwägung zwischen Sicherheit, Performance, Kosten, Flexibilität – und nicht zuletzt Schnelligkeit. Wer seine Produktidee möglichst schnell auf den Markt bringen will, bedient sich externen Services. Wer dagegen einen langfristigen Betrieb für Millionen von Nutzern plant, wird über ein eigenes Backend nachdenken, um sich nicht von externen Diensten abhängig zu machen. Ein solides Fundament kann später jede Menge Zeit und Geld sparen. Doch oft ist es genau dieses Spannungsfeld, das ein Startup ausmacht: Man muss schnell sein – aber nicht so schnell, dass man sich in einem unlösbaren Geflecht externer Services verfängt. Die Kunst ist, den richtigen Grad an „Verkabelung“ zu finden, ohne sich selbst langfristig zu blockieren.